Donnerstag, 7. November 2013

LaB. Dante Aleghieri: Inferno. Canto v.

(völlig überarbeiteter Blogpost)
Es ist immer wieder schön festzustellen, warum ein Buch ein Bestseller ist. Häufig liegt es nämlich daran, dass es einfach Freude macht, es zu lesen.
Noch schöner ist es aber, wenn man entdeckt, warum ein Buch Teil des literarischen Kanons ist. Dabei muss man die Lesefreude manchmal auch erst ein bißchen suchen.
Ich zum Beispiel bin zur Zeit damit beschäftigt, Dante zu lesen. Genauer: die Göttliche Komödie. Genauer: das Inferno, also den ersten Teil der Trilogie, wenn man so will, und, wie viele Stimmen behaupten, auch den besten. Weil nämlich: Hölle! Monster, Teufel, Sünder!!!
Teil 2 (Purgatorio=Läuterungsberg) und Teil 3 (=Paradies) können dagegen nur vergleichsweise langweilig sein. Oder, schlimmer, theologisch. Oder so.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich es je erfahren werde. Also ob ich nach dem Inferno, ohne den selbst-auferlegten aber äußerlich kontrollierten Zwang regelmäßigen Lesenmüssens über das Inferno hinaus kommen werde.
Dante ist keine einfache Strandlektüre. 
(Für einfache Strandlektüre zu ähnlichen Themen wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an Dan Brown).
Man muss sich schon ein bißchen darauf einlassen.
Zum Glück gibt es das Internet, und im Internet gibt es Lesehilfen. Und die helfen tatsächlich, sei es mit etwas Hintergrundwissen, sei es mit nützlichen Fragen, die man an den Text richten kann.
Sei es, dass Roberto Benigni sich ganz alleine auf eine Opernbühne stellt und einen Gesang aus der Commedia rezitiert. Vor ausverkauftem Haus. So dass wir Teutonen in den Genuss der italienischen Klänge und Vokale und Terzinen und Rhythmen kommen.
*seufz*
schon schön.

Der Schlüsselsatz für mich ist übrigens bei
8:18
Galeotto fu il libro e chi lo scrisse: quel giorno più non vi leggemmo avante.
Verführer war das Buch und der's geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter..
 
Literatur ist eben gefährlich.
Aber von vorn:
Im fünften Gesang betritt Dante, unser Protagonist, mit seinem Führer Vergil endlich die "richtige" Hölle.

(Zuvor wanderte er verloren im Wald (canto i), traf Vergil, der ihm  im Auftrag der seligen Beatrice den Weg durch das Jenseits zeigen soll (canto ii), trat durch das Höllentor in den Bereich der "Lauwarmen", der Parteilosen, der -soll man sie Schweizer nennen? - (canto iii) und überquerte den Acheron Richtung Limbo, also der Vorhölle, wo die tugendhaften aber leider mangels Taufe von der Erlösung ausgeschlossenen antiken Helden weilen (canto iv).)

Nun also, endlich, echte Sünder. Dante (also der Dichter, der sich das Ganze ausgedacht hat) - Dante-Dichter also bestraft alle "seine" Sünder angemessen. Nach dem homöopathischen Prinzip, dass Gleiches mit Gleichem zu vergelten sei, muss die Strafe also der Sünde entsprechen. (Die Forschung nennt das "contrapasso". Aha.) Und die Sünde, die diese armen Seelen hier im fünften Gesang begangen haben, ist "Wollust" - zügellose Liebe, der sie sich hingegeben haben - obwohl sie bereits anderweitig verheiratet waren, beispielsweise. Zur Strafe treiben die armen Seelen nun hilflos im Wind, genauso unkontrolliert und haltlos, wie sie sich ihrer Liebe bzw. Wollust hingegeben haben.

Dante-Protagonist also ruft sich zwei solcher Seelen heran, es ist das (dank Dante) berühmte Paar Francesca da Rimini und Paolo Malatesta (ihr Schwager). Er lässt sich von Francesca erzählen, wie es zur Sünde kam. Glücklicherweise herrscht gerade ein bißchen Flaute, so dass das Paar verweilen kann -und siehe da. man war ineinander verliebt. Paolos Liebe: denn Francesca war schön, Paolos Liebe, denn sie erweckt Francescas Gegenliebe, ihrer beider Liebe, für die der Bruder/Ehemann sie beide erschlug - voilà.

Immerhin muss auch der Mörder in die Hölle, wenn auch weiter unten/hinten (Kreis 8, bei den Verwandtenmördern).

Sowohl Dante-Dichter als auch Dante-Protagonist haben großes Verständnis für die Liebe - ist nicht Dante selbst gerade dabei, seiner Beatrice zu folgen? Ein Mädchen, dass er nur zweimal gesehen, die längst verstorben, die er aber in seiner Literatur zur Liebe seines Lebens stilisiert hat?

(Man fragt sich schon, was wohl Frau Aleghieri davon hielt. Dennoch: Dante und Beatrice, das war rein platonisch!) 

Dante-Protagonist fragt also nach: Liebe allein bring niemanden in die Hölle - was ist passiert?
Und Francesca antwortet: 
Man habe ganz friedlich beieinander gesessen und hat gelesen. Einen Bestseller: Lanzelot! Und als Ritter Lanzelot sich in Guinevere verliebt habe, die Frau seines Königs - da sei man ganz blaß geworden. Und habe sich angesehen und gezittert. Und als Lanzelot Guinevere geküsst habe ... da habe auch Paolo seine Schwägerin geküsst.
Galeotto fu il libro e chi lo scrisse: quel giorno più non vi leggemmo avante.

Und zwar nicht, wirklich nicht, weil kurz danach bereits beide vom eifersüchtigen Ehemann und Bruder erschlagen wurden. Nein! Ein Kuss hätte da wohl nicht ausgereicht. Der Ehemann und Bruder wird sie wohl mindestens eine Dreiviertelstunde nach diesem ersten Kuss erwischt haben. Meine Güte! Muss man denn immer alles ausbuchstabieren?

Und Dante-Protagonist fällt vor Mitleid in Ohnmacht.

Was für eine Geschichte! Die Tragik des Paares, die schlimme Strafe --- Moment. Ist man denn bestraft, wenn man nun für immer mit dem Liebsten zusammen sein darf? Ja, sagt Dante-Dichter mittels Francesca: 
„Kein Schmerz kann mehr verwunden, 
Als der : im Elend freudenreicher Tage
Zu denken"...
Die Strafe ist also tatsächlich eine Strafe. Aber mit der Reue scheint es noch ziemlich weit her - zumindest Francesca, als redende, sich erklärende Person, schiebt die Verantwortung weit von sich. Paolo ist schuld (denn er hat sich zuerst verliebt), das Buch ist schuld (denn es hat sie auf dumme Ideen gebracht...) -- als haltlos, passiv, getrieben stellt sich Francesca dar (=stellt Dante-Dichter Francesca dar), ohne eigenen Sinn, Verstand, Anstand, Moral, Entscheidungsfähigkeit -- und genauso treibt sie nun im Wirbelwind des zweiten Höllenkreises.
Die Ärmste.

Lernen aus Büchern: 
Bücher sind gefährlich. Sie setzen einem Ideen in den Kopf. Man sollte diese Ideen genau prüfen, bevor man ihnen folgt.