Immerhin - seit der Bologna-Reform machen sich immer mehr Hochschulen Gedanken darüber, warum das so ist, und wie man Studienabbrüche verhindern kann. Das ist schon einmal eine gute Entwicklung. Selbst renommierte technische Hochschulen können sich nicht mehr darauf ausruhen, dass sich eben nur "die Besten" durchsetzen - wenn es einen Fachkräftemangel gibt, kann man eben nicht die paar Interessierten auch noch aktiv vertreiben. (Ich spreche nicht vom Senken der Anforderungen, sondern von Hilfestellung bei Schwierigkeiten.)
Vor ein paar Tagen äußerte sich Dominikus Herzberg, Informatikprofessor an der THM Giessen, in einem Artikel in der ZEIT und forderte frei kombinierbare Studiengänge, in denen Studierende ihre Stärken kombinieren und "Problemfächern" ausweichen könnten, denn "zu viele Studierende brechen ihr Studium wegen Problemfächern ab". Dies sei auch ein Problem für die Industrie, die eher an den Stärken als an den Schwächen der Absolventen interessiert sei.
"Das eine Unternehmen hätte kein Problem mit einem Informatik-Studenten, der mit dem Pflichtfach "Theoretische Informatik" nicht klarkommt. Ein Bachelor-Zeugnis mit einem Ersatz-Fach, sagen wir "Smartphone-Programmierung", wäre kein Problem. Hauptsache ein Bachelor-Zeugnis. Ein anderes Unternehmen, das sich etwa auf Steuersysteme für Autos spezialisiert hat, will die Theoretische Informatik im Zeugnis nicht missen. Die Mitarbeiter sollen die feinsinnigen theoretischen Grundlagen beherrschen, die eine Software für das Bremssystem zuverlässig und robust machen. Was sich in der Welt da draußen an Diversität nicht ausschließt, wird an der Hochschule zu einem Problem und macht Bildungsläufe kaputt." (Link aus dem Artikel)Nun gibt es aber Gründe, warum erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Jahrzehnte hinweg Studiengänge konzipiert haben, Studienordnungen geschrieben, Pflichtfächer definiert und Mindeststandards eingeführt. Denn nicht nur in den berufsbildnahen Fächern ist es nützlich, erst Grundlagen zu lernen und erst dann Vertiefungsfächer zu wählen, wenn man einen Überblick über die zu erlernende Disziplin gewonnen hat. Vielleicht kannte man Teilbereiche des Faches bisher gar nicht, oder hatte eine falsche Vorstellung davon, wie es sich entwickelt? Studienprogramme bieten eine Hilfestellung in der Orientierung innerhalb eines Faches, und in einem Großteil der Fälle ist diese Hilfestellung auch notwendig. Ob das Studienprogramm in seiner Aufteilung sinnvoll war, kann man eigentlich erst nach der Prüfung beurteilen.
Komplett selbst zusammenstellbare Studiengänge sind hingegen weltweit sehr selten. In Deutschland kenne ich - abgesehen von einigen Schnupperstudienmodellen wie dem Tübinger Leibniz Kolleg, für das es aber keinen BA-Abschluss gibt - nur das Studium Individuale an der Leuphana Universität. Und selbst hier werden die Studierenden mit einigen Pflichtmodulen Forschungsmethoden oder Projektarbeit zumindest beim reflektierten Erwerb akademischen Arbeitens unterstützt. Das Auswahlverfahren ist sehr streng und begünstigt Menschen, die ein genaues Lernziel haben gegenüber "Schmetterlingen", die sich für alles ein bißchen und für nichts richtig interessieren. Es erfordert eine hohe Eigenmotivation, Selbstorganisation und Zielstrebigkeit. Meines Erachtens ist es eher geeignet für Menschen, die schon etwas Berufserfahrung gesammelt haben, und dabei ihre Wissenslücken schon definieren konnten.
In einem kurzen Twitter-, dann E-Mail-Austausch mit Prof. Herzberg habe ich diese Meinung auch geäußert. Zusammengefasst gibt es sehr unterschiedliche Gründe, für einen Studienabbruch, die ich in diesem Blog noch einmal besser strukturiert wiederzugeben versuche...
Mögliche Gründe für Studienabbruch
können z. B. sein:
a) man studiert das falsche Fach/ Studiengang (und sattelt um)
b) man ist an der falschen Hochschule (und zieht um)
c) man ist an der falschen Hochschulform (und wechselt zu FH oder
BA oder Uni...)
d) man ist an einem Studium eigentlich nicht interessiert/nicht dafür
gemacht/hatte falsche Vorstellungen (und macht z.B. besser eine
Ausbildung)
Diese Fälle kann man möglicherweise durch bessere Informationen und Beratungsangebote vor Aufnahme des Studiums vermindern oder zumindest begleiten/abfedern. Den Studierenden kann man nur raten, die Informationsangebote auch rechzeitig zu nutzen. Aber manchmal muss man eben schon im
Wasser sein, um entscheiden zu können, ob es zu nass ist oder zu kalt
oder zu tief oder ob man gegen Chlor allergisch ist.
Meines Erachtens sollten Studierende, Hochschulen und Dozierende aber froh sein, wenn die Studierenden ihre Fehlentscheidung innerhalb der
ersten zwei Semester merken und nicht viel Zeit verlieren. Im
Gegenteil: es ist als Erfolg zu werten, wenn es zu
informierten (!) Neuorientierungen kommt. Denn in fast allen
Fällen bedeutet Abbruch nicht gleich "Versagen: obdachlos
unter der Brücke" - sondern höchstens: eine andere Biographie
als erwartet.
e) man wird durch biographische Einflüsse vom Studium
abgebracht (aber gründet vielleicht ein erfolgreiches Startup, oder eine Familie, oder...)
Wenn man selbst oder Familienangehörige krank werden oder sterben, wenn man überraschend eine gut bezahlte Stelle im Ausbildungsberuf oder Nebenjob erhält, wenn einem die Stadt nicht gefällt oder man Liebeskummer hat, oder man selbst oder die Freundin schwanger wird, kurzum: wenn eines von unzähligen Ereignissen eintritt, die unser Leben beeinflussen - dann kann es zum Studienabbruch kommen. Da kann aber auch die beste
Studienberatung
nichts ändern. Studierende bringen ihr eigenes Leben mit,
und die Hochschule ist davon nur ein Teil, und nicht immer der
wichtigste.
(Ausnahme: Geldsorgen sollten niemals ein Grund für den Studienabbruch sein - Bafög und Stipendien sollten das eigentlich verhindern. Dennoch kommt es vor - leider - denn es ist ein politisch leicht lösbares Problem.)
Aber von Studienabbrechern konkrete Gründe für den Abbruch zu
erfahren ist schwierig - die meisten Absolventenbefragungen
sind freiwillig, und wer im Zorn oder Frust geht, der wird sie wohl
meiden. Leider sind die Statistiken zum Studienabbruch über alle Studiengänge
hinweg sehr ungenau. In der Regel werden nur
einzelne Bewegungen erfasst, keinesfalls aber konkrete
Studienbiografien. Das heißt, es gibt eine Schwundquote (von x
Studienanfängern sind noch x-n im 2. Semester, x-n-n im 6 Semester etc), die
aber keinerlei Aussage darüber trifft, wie erfolgreich ein
einzelner Studierender ist. Ein oder zwei Semester länger zu studieren erfüllt viele Bacherloranwärter bspw. mit Panikattacken - dabei wird sich ein sorgfältiges Studium auf lange Sicht möglicherweise sogar auszahlen. Auch ist es schwierig, Fachwechsel konkret
nachzuverfolgen - ein Fachwechsler ist aber nicht unbedingt
ein Studienabbrecher. In den alten
Diplom-/Magisterstudiengängen war es noch schwieriger, weil
Studierende ermutigt wurden, nach der Zwischenprüfung die Uni
zu wechseln -- und dadurch in der Statistik zum Abbrecher
wurden.
Solange wir individuelle Studienbiographien nicht über Hochschul-, Stadt- und Länderwechsel hinweg verfolgen
können, bleibt jede Aussage spekulativ.
Immerhin scheint es eine Tendenz zu geben. Fächer, die gerade am Anfang
eine schlechte Abbrecherquote haben ( z. B.
Informatik, Ingenieure) haben auch gute Absolventenquoten - viele Abschlüsse in der Regelstudienzeit mit ordentlichen
Noten.
Ich schließe daraus, dass v.a. die Leute schwinden, die
falsche Erwartungen an das Studium hatten bezüglich Inhalten,
Arbeitsaufwand, Interesse, und die anderen übrig bleiben.
f) man fällt durch eine oder alle Prüfungen (und ergreift die
Option a, b, c, d, e)
Ein solcher Fall hat den o.g. Artikel ausgelöst.
Das ist bedauerlich, besonders wenn es, wie im Artikel geschilderten Fall, die "employability" des Studierenden nicht im geringsten beeinflusst hätte. Natürlich sollten die Grundlagen des Faches beherrscht werden, aber wegen eines Vertiefungsfaches das gesamte Studium nicht anerkannt zu bekommen - tragisch. Selbst wenn ein Jurist das erste Staatsexamen nicht besteht, so hat er/sie doch 4-5 Jahre lang Jura studiert und versteht davon mehr, als jemand, der/die das nicht getan hat. Dennoch ist er/sie eben kein/e Jurist/in, und das ist auch in Ordnung.
Nicht in Ordnung ist es, dass Unternehmen sich bei Ihren Stellenbesetzungen so selten genau damit auseinandersetzen, was die gesuchte Person auf der ausgeschriebenen Stelle eigentlich können muss - wird ein Volljurist überhaupt benötigt? Hier ist die Wirtschaft in der Pflicht. Die Fixierung auf formale Kriterien bei gleichzeitigem Wunsch nach eierlegenden Wollmilchsäuen bietet Menschen mit "krummen" Biographien (oder unerwarteten Abschlüssen, Stichwort: Geisteswissenschaften in der Wirtschaft) wenig Chancen, sich zu beweisen.
Vielleicht ist der Fachkräftemangel/Akademikermangel eben doch nicht so groß, wie immer behauptet wird?
Statistik für Motive zum Studienabbruch (2000/2008)
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/75078/umfrage/studium---motiv-fuer-den-abbruch/Prof. Herzberg bloggt unter
http://denkspuren.blogspot.de/