Sonntag, 24. Mai 2020

#kunstderwoche. Heute: Artemisia Gentileschi

Twitter ist etwas wunderbares, wenn man den richtigen Leuten folgt.

@novemberregen (https://novemberregen.blogger.de/) hatte sich nämlich gewünscht, Bilder - und zwar im engeren Sinne Bilder, die im Museum hängen, also sogenannte "Kunst" - erklärt zu bekommen. Oder vorgestellt. Und so vielleicht im Vorbeigehen, ein bißchen niedrigschwellig, quasi per Osmose, etwas dazuzulernen.
Und weil sie Frau Direktorin @novemberregen ist, hat sie die Aktion auch organisiert, oder koordiniert, oder jemanden gefunden, der oder die das organisiert und koordiniert, und deshalb gibt es ein öffentliches google-Dokument, bei dem sich allerlei Freiwillige bereit erklärt haben, einmal pro Woche etwas über Kunst  zu sagen.
Hashtag: #kunstderwoche


https://docs.google.com/document/d/1LfLolqSlAfU7yknx2I72lO52We3D4AV_LK2tEZgZSsg/edit

Und heute bin ich dran.
Artemisia Gentileschi begegnete mir erstmalig im Kunstgeschichtsstudium. Ich weiß nicht mehr warum und in welchem Kontext, aber damals(TM) -Ende der 1990er Jahre- hatte ich einen Professor, der sehr gegen feministische Kunstgeschichte wetterte. Manchmal gab es Seminare, in denen ein Werk oder ein Künstler oder eine Epoche aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven betrachtet wurde, und dann musste jemand ein "feministisches" Buch lesen, und wehe, man fand das einleuchtend, dann machte der Professor sich erst über dich und dann über die feministische Kunstgeschichtsforschung lustig.
Und aus Gründen, die ich gar nicht mehr genau zusammenkriege, ist Artemisia Gentileschi die Künstlerin, bei der ich erstmalig verstanden habe, was es mit dem "male gaze", dem männlichen Blick auf Kunst, auf Künstler und auch auf die Kunstgeschichte als Fach, auf sich hat.

Aber fangen wir vorne an.

Selbstporträt Gentileschis, 1638–39
Artemisia Gentileschi lebte von 1593 bis 1654 in Rom. Sie gilt als eine der bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten des Barock. Ihr Vater Orazio war Maler, und sie lernte sie schon früh bei ihm zeichnen und malen (und stand ihm Modell), und weil sie offenbar sehr talentiert war, erhielt sie auch von anderen Malern Unterricht. Als sie 12 war, starb ihre Mutter, und 1612, als sie 19 war, zeigte ihr Vater ihren Lehrer an, seine Tochter vergewaltigt und vor allem danach nicht geheiratet zu haben. Natürlich war es Artemisia, die beweisen musste, dass sie keine Prostituierte war... Trotz der öffentlichen Schande heiratete sie einen Florentiner Maler, zog mit ihm ins Ausland (Florenz) und wurde dort bereits 1616, mit nur 23 Jahren und nach weniger als 4 Jahren in Florenz als erste Frau überhaupt Mitglied der Kunstakademie Accademia dell’Arte del Disegno.




Sie war sehr erfolgreich, vor allem mit klassischen "Frauenthemen": Madonnen, Maria Magdalena, Kleopatra (hier beim Selbstmord per Giftschlange)
Kleopatra, um 1611–1612

Danae (beim Sex mit Zeus in Gestalt eines Goldregens. Weiß der Himmel, was die Magd im Hintergrund will -- vielleicht erkennt sie den Gott nicht, oder es ist eine frühe Kritik am Kapitalismus - Gold ist geil? naja, wahrscheinlich nicht)
Danaë, um 1611–1612

und andere Frauenporträts.
 Selbst Laien wird die Ähnlichkeit zwischen den beiden Bildern auffallen  (beide sind aus dem Jahr 1611-12) -- Artemisia war Malerin, und sie musste mit ihrer Malerei Geld verdienen . Es gab nicht einen vernünftigen Grund, ein erfolgreiches, beliebtes Motiv nicht mehrfach zu verwerten, und das galt auch für erfolgreiche Bildformeln (Ikonographie). Das ist auch nicht anders als in der Literatur.

Und bevor man hier jetzt aus der heutigen Zeit heraus behauptet, sie habe sich sozusagen protofeministisch besonders für Frauen und deren Belange interessiert, sei an den entstehungsgeschichtlichen Kontext erinnert. Wir befinden uns im Barock. Artemisia hat bereits einen schlechten Ruf im Umgang mit Männern abzuschütteln. Und sie ist eine der wenigen Frauen, die sich im höchsten Genre der Malerei behaupten will - und kann: der Historienmalerei.

(Die Malerei war bis weit ins 19. Jahrhundert einigermaßen hierarchisch organisiert nach Themen und dem vermeintlichen Schwierigkeitsgrad. Stilleben und Landschaften waren unbelebt und galten als vergleichsweise einfach (und angemessener für Frauen), Tiere und Menschen waren schwieriger, vor allem in Bewegung. Königsdisziplin war das auch thematisch "wertvolle" Historienbild, wobei nicht zwischen historischer, mythischer und religiöser Geschichte unterschieden wurde -- im Zweifel wurde ohnehin alles noch um eine weitere allegorische (= höhere) Bedeutungsebene erweitert.
Kernstück der Historienmalerei war aber die Darstellung von menschlichen Körpern in Bewegung und Interaktion miteinander -- und damit jeder sehen konnte, wie naturgetreu man die Anatomie darstellen konnte, waren die Figuren gerne mal ohne weitere Motivation unbekleidet...
Und dafür brauchte man Modelle.
Und als Frau, noch dazu als Frau mit "Vorgeschichte", kam Artemisia wahrscheihnlich nicht sehr gut an männliche Modelle heran. Weibliche Modelle hingegen - kein Problem. (Das galt auch umgekehrt, übrigens, wenn man sich beispielsweise einmal eine der hypermuskulösen Frauendarstellungen von Michelangelo betrachtet, so hat er wahrscheinlich an einem männlichen Modell die Anatomie "angepasst"...)

Wenn Artemisia also Historienbilder malen wollte, und der Zugang zu männlichen Modellen entweder unmöglich oder sehr eingeschränkt war, blieben eben nur Themen mit weiblichen Protagonisten -- und davon gibt es eben nur eine beschränkte Auswahl.
Und nun kommen wir endlich zum "male gaze", dem männlichen Blick. 
Betrachten wir einmal eines ihrer berühmtesten Bilder, Susanna und die Ältesten von 1610:
Susanna und die Ältesten, 1610,
170×121 cm,Öl auf Leinwand,
Pommersfelden, Schloss Weißenstein, Schönbornsche Kunstsammlung
Wir erinnern uns: Das Buch Daniel erzählt, wie Susanna im eigenen, durch Mauern geschützten Garten ein Bad nehmen wollte, dabei von zwei lüsternen alten Männern, einflussreichen Richtern gar, bedrängt wurde. Als sie um Hilfe rufen will, drohen diese: Wenn Du um Hilfe rufst, sagen wir, wir hätten Dich beim Ehebruch erwischt. Dein Ruf ist ruiniert! -- Susanna ruft dennoch um Hilfe, die Männer verleumden sie und verurteilen sie zum Tod. Glücklicherweise führte Daniel das erste überlieferte ordentliche Kreuzverhör der Geschichte durch, die "Zeugen" wurden der Falschaussage überführt, Susanna kam frei und die falschen Zeugen wurden getötet.

In der traditionellen, männlich geprägten Malerei wurde diese Geschichte häufig so dargestellt wie in diesen beiden Beispielen von Tintoretto aus den 1550er Jahren.
J. T.: Susanna im Bade (c. 1550–1560), Louvre
J. T.: Susanna und die Älteren (um 1552–1555), Museo del Prado
Susanna, mit verschwörerischem Blick zum Betrachter, scheint die Aufmerksamkeit zu genießen. Läßt sich ohne sichtliches Schaudern begrapschen, lehnt sich (genießerisch?) zurück. Insgesamt scheint der Maler die Auffassung der Alten zu teilen -- eigentlich will sie es doch auch!

Wie anders die Darstellung oben: Abscheu, Angst, Hilflosigkeit. Susannas verletzliche Nacktheit wird erbarmungslos ausgeleuchet, doch sie ist der Situation des Badens geschuldet und wird nicht erotisiert zur Schau gestellt. Die Alten über ihr sind im Schatten, sie bilden eine stabile Pyramide, die rote Mantelfarbe symbolisiert Macht, Kraft, power. Susanna hingegen wirkt instabil, selbst in der Hocke durch die Abwehrbewegung dynamisch, aber eben auch leicht umzustoßen, ohne eine stabile Basis. Das Handtuch ist unschuldig weiß, die Leere neben ihr hebt hervor, wie allein sie ist -- weit und brei keine Mägde, die als Entlastungszeuginnen dienen könnten...

Ich bin kein Fan von allzu biographischen Interpretationen von Kunst, aber es ist wohl kein Zufall, dass die Entstehungszeit um 1610 in die Zeit ihrer Vergewaltigung fällt. Es fällt schwer, in diesem Bild nicht einen #Aufschrei, ein  #metoo zu sehen, und eine große Identifikation der Malerin mit der Situation der Susanna. Wie diese ließ sie sich nicht durch Victim Blaming zum Schweigen bringen, trug die Konsequenzen und litt zeitlebens darunter. Wie für Susanna ging es in ihrem Fall gut aus, aber das konnte sie zum Zeitpunkt des Malens nicht wissen. War es dieses Bild, das ihren Vater über die Vergewaltigung informierte? Möglich. Ich war nicht dabei, wir werden es nicht erfahren.

Ihre berühmten Judith-und-Holofernes-Darstellungen als reine Rachegelüste zu interpretieren, wie ebenfalls häufig geschehen, halte ich allerdings für übertrieben - wobei, was weiß ich schon.

Judith enthauptet Holofernes, um 1612
 Für richtige Rache gehen Judith und ihre Magd meiner Meinung nach viel zu klinisch-methodisch vor. Leicht angeekelt erledigt eine Frau (Judith) hier mal wieder die Drecksarbeit, die halt gemacht werden muss (den feindlichen Heerführer Holofernes beseitigen, um den Krieg zu beenden), und das mit pragmatischer Effizienz (ihn verführen, betrunken machen, Kopf abschlagen).
Vielleicht ist das tatsächlich eine Drohung an den männlichen Betrachter - Sex ist eine Waffe, die beide Seiten einsetzen können, und die auch die Mächtigen zu Fall bringen kann? Vielleicht half es Artemisia ihr Trauma zu überwinden, indem sie sich mit der starken, selbstbewussten und sexuell selbstbestimmten Judith identifizierte? Stellte sie diese deshalb aktiv dar, im Akt des Köpfens, statt traditionell passiv, nach der Tat mit dem Kopf in der Hand, Schwert und Kleidung sorgsam gereinigt, wie hier bei Cranach?
Lucas Cranach der Ältere: Judith mit dem Haupt des Holofernes, um 1530, Kunsthistorisches Museum, Wien
Tatsächlich ist sie aber nicht die erste, die diesen neuen Schwerpunkt setzte, sondern folgt damit einer neuen "Mode", erfolgreich etabliert von Caravaggio. Das ist hier aber nicht das Thema. Wer mehr zu Caravaggio und Judith wissen will, lese lieber diesen lohnenden Blogartikel:
http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2012/07/barock-splatter.html

Ich hingegen gebe für heute zurück ans Publikum. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit - bei Fragen nutzen Sie gerne die Kommentare (habe ich die Kommentarfunktion offen?) oder finden Sie mich auf Twitter unter @bleistifterin  #kunstderwoche


Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Artemisia_Gentileschi
https://de.wikipedia.org/wiki/Susanna_im_Bade
https://de.wikipedia.org/wiki/Judith_und_Holofernes_(Sujet)
Literatur:
Garrard, M: Artemisia Gentileschi: The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art,
Princeton University Press, 1989