Sonntag, 31. Mai 2020

#kunstderwoche. Heute: Das Portrait der Mlle Duthé, von Henri-Pierre Danloux.

Letzte Woche habe ich für Frau @novemberregen etwas über Artemisia Gentileschi erzählt. 
Das hat großen Spaß gemacht. Davon abgesehen, dass ihre Bilder fantastisch sind, hat es mir sehr gut getan, mich wieder einmal rundherum kompetent zu fühlen.

Als ich mich vor zwei Jahren entschieden habe, eine Umschulung zur Fachinformatikerin für Anwendungsentwicklung zu machen, ging es mir vor allem darum, etwas Neues zu lernen. Und das habe ich ja auch. Ich habe mich aber auch in eine Situation gebracht, in der ich -zum ersten Mal seit sehr langer Zeit - wieder einmal wirklich völlig inkompetent war. Ich hatte keinerlei Vorkenntnisse im Programmieren. Ich bin nicht mit einem C64 oder Atari aufgewachsen. Ich spiele keine Computerspiele, modde mir keine cases und war noch nie auf dem CCC. 
Ich blogge auch immer noch in einem WYSIWYG-Editor. (Aber ich müsste das jetzt nicht mehr!)
Es ist wirklich für die meisten erwachsenen Menschen nicht nachvollziehbar, wie es sich anfühlt, wieder komplett zum Anfänger zu werden, der nicht einmal die Grundzüge eines Faches versteht, wie dumm man sich fühlt und wie hilflos. Vor allem, wenn man - wie ich - schon vor der Einschulung lesen konnte und immer mühelos und mit guten Noten durch die verschiedenen Lehranstalten gesegelt ist. 
Und ich habe aber  mich nicht nur selbst dumm und hilflos gefühlt - ich wurde auch (von einigen Menschen) so behandelt, als sei ich eine rundherum inkompetente Person, nur weil ich das ISO-OSI-Modell nicht kannte. (Zuletzt habe ich mich so in Japan gefühlt, wo ich nach einer Weile das Gefühl hatte, dass (manche) Menschen von meinem Sprachniveau (etwas dem einer Dreijährigen) auf meine intellektuelle Kapazität rückschließen wollten...)

Deshalb war es so wohltuend, wieder einmal etwas zu können - Bilder angucken habe ich nämlich gelernt. (Und in drei Wochen  habe ich Abschlussprüfung, und da kann ich auch zeigen, was ich in den letzten zwei Jahren gelernt habe, auch wenn mir das in der Corona-Zeit wahrscheinlich alles erstmal nichts nutzen wird.) 
Und ja, das kann man lernen. Viele Bilder angucken, beispielsweise, hilft enorm. Und genau hinsehen, in Worte fassen, was ich da sehe, hilft (mir) besonders. Mein Zugang zu Bildern kommt nämlich immer über das Wort. 

Genug der Vorrede. Im #kunstDerWoche google-doc hatte sich jemand ein Bild gewünscht:
"Das "Portrait de Mlle Duthé", von Henri-Pierre Danloux.
Von Rosalie Duthé gibt es zahlreiche Porträts unterschiedlicher Künstler, aber es handelt sich wahrscheinlich um dieses Bild:
 
Portrait of Mlle Duthé by Henri-Pierre Danloux, c.1792. © MAD, Paris / photo: Jean Tholance

Ich kannte weder Bild noch Künstler, aber in der Kunstgeschichtsausbildung gibt es etwas, das sich "Postkartentest" nennt: dabei muss man entweder wissen, was auf einer vom Prüfer wahllos vorgezeigten Postkarte dargestellt ist - oder es sich erschließen. Wie bei einem Dachbodenfund. 

Also, frisch ans Werk: die Namen deuten schon einmal auf Frankreich.
Kleidung, Haare, Interieur - französischer Rokoko, also 18. Jahrhundert, vor der Revolution. Der Rahmen scheint etwas später, aus dem Empire zu sein. Warum auch nicht. 
Wir sehen eine junge Frau in einem luftigen weißen Kleid. Die Ärmel sind bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Sie kniet mit dem linken Bein auf einem petrolfarbenen Samtsofa, offenbar will sie gerade ein Bild aufhängen. Oder abnehmen. Sie dreht sich zum Betrachter/Maler um, als hätte dieser sie überrascht. Sie lächelt fein- es ist eine angenehme Überraschung. Hinter dem Sofa ist ein Vorhang aus dem gleichen petrolfarbenen Samt drapiert, tatsächlich ragt ein Nagel aus dem Stoff. Interessant. Mal was anderes als Bilderleisten auf weißer Rauhfaser. Links steht eine große Kommode, oder ein Sekretär(?) - ein elegantes, mit Intarsienstreifen verziertes Möbel, das ihr sicherlich bis zur Schulter reicht - und darauf ein kleiner Putto sowie eine mit Blumen gefüllte Vase.
Hier kann man das alles etwas besser erkennen.

Wir haben also ein Ganzkörperportrait, eingebettet in eine kleine Szene. Das Ganze wirkt informell, wie ein Schnappschuss, aber ist natürlich sorgfältig durchkomponiert, so dass wir eine Menge über die dargestellte Person erfahren. 
Was erfahren wir? 
1. Das Aussehen der Mmlle Duthé. 
Hübsch, aufwendig frisiert ("Frisur", das kommt von "Locken drehen", und keiner kann mir erzählen, dass sie ihre Haare alleine so toupiert hat. Oder das Mieder so fest gezogen hat. Sie wirkt rosig, frisch und gesund.
2. Der (Wohl-)Stand der Mmlle Duthé.
Es handelt sich um ein privates Boudoir - damit können wir die unteren Schichten schon einmal ausschließen. Die Möbel sind kostbar, ein Teppich bedeckt den Fußboden, Samt und Seiden definieren einen privaten Rückzugsraum. Hier werden keine Gäste empfangen, dies ist ein privates Gemach von einiger Eleganz und mit wertvollen Stoffen und Möbeln eingerichtet. Plus mindestens eine Zofe, siehe oben. Gehobenes Bürgertum oder niedriger Adel? Vor allem kann man erstmal auf ein gewisses Vermögen schließen. 

Aber auch, oha: hier sind auch Hinweise darauf, wie dieses Vermögen erworben wurde. Offenbar nicht ererbt oder erheiratet, vielmehr aus eigener Kraft, oder sollte ich sagen, mit eigenen Reizen erworben? (eine zu dieser Zeit keinesfalls anrüchige Methode, für eine junge hübsche Frau zu Geld zu kommen - lest mal etwas aus Casanovas Memoiren, oder "Gefährliche Liebschaften" -- Paris Hilton war nicht das erste It-Girl, das sich selbst zur Marke machte. Mein Verdacht jedenfalls, noch immer ohne den Wikipedia-Artikel gelesen zu haben, ist folgender: Fräulein Duthé erhält ein stattliches Auskommen und die Möglichkeit, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, gegen gewisse Gegenleistungen. Denn:
3. Errrrotik überall.
Hier, ich zeige Euch das mal.
 
in gelb der Nagel

Nein, im Ernst! Als wäre das Setting nicht genug -- sie empfängt den Betrachter in einem Privatgemach, als sei das nicht ungewöhnlich. Befindet sich schon halb auf einem bequem aussehenden Sofa, kniend, sodass man ihren Knöchel (!!!) sehen kann (clutches pearls, scandalized)! Der geflügelte Putto steht natürlich für den Liebesgott Amor, und wenn wir uns das Bild genau betrachten...
... hier, ich mach das mal groß: Eine Schäferin! (sitzende Frau mit Schäferstab, oder?)
Schäferin = Schäferstündchen. Die Assoziation kommt genau aus dieser Zeit und aus diesem Mal-Genre, und ja, auch aus dieser städtisch-gehobenen-urban-weltläufigen Schicht von Malern und Salongesellschaftern, die noch nie einen Widder aus dem Dornbusch gezogen oder nachts im Regen einem Lamm auf die Welt geholfen haben, oder was auch immer es ist, was echte Schafhirten im echten Leben den ganzen Tag tun.
Ich wette, wenn man das genauer recherchiert, verraten auch die Blumen in der Vase irgendetwas erotisches, oder aber sie stehen als Vanitas-Symbol für die Vergänglichkeit der Schönheit. Wenn aber Deine Schönheit Dein größtes Kapital ist? Nunja. 
Zeit, einmal nachzulesen.
Und voilà! 
Das schöne Gefühl des Triumphes! 
Ich habe tatsächlich etwas sehen gelernt im Studium! Kompetenzen, Kompetenzen. 
(UND jetzt AUCH NOCH das Osi-Modell. Ha!)

Tatsächlich war Rosalie Duthé (1748–1830) eine gefeierte Kurtesane, die einflussreichen Männern reihenweise den Kopf verdreht hat. Und natürlich wurde sie von ihnen großzügig ausgehalten, das gehörte sich so. Sie gilt als das erste "dumme Blondchen", wahrscheinlich, weil sie vor dem Sprechen immer betont lange Pausen machte. Ganz so dumm kann sie nicht gewesen sein, an ihre "Karriere" ging sie jedenfalls sehr strategisch und zielgerichtet heran...doch auch dabei hat das Klischee sicher geholfen.
Unser Portrait ist von 1792, da war sie (schon) 44 Jahre alt. Der Maler, Henri-Pierre Danloux, war genau wie sie selbst vor den Auswirkungen der französischen Revolution nach England geflohen. Das Gemälde entstand im Auftrag von Rosalie Duthés Bankier und lebenslangem Freund, der sich zu dieser Zeit bemühte, ihr beschlagnahmtes Eigentum zurückzugewinnen oder zu Geld zu machen.
Rosalie Duthé kehrte erst 1816 nach Frankreich zurück, zusammen mit dem restlichen Profiteuren des Ancien Régime -- Napoleon saß sicher auf seiner Insel, die Bourbonen wieder auf dem Thron, ihre einflussreichen Jugendfreunde, so sie die Revolution überlebt hatten, kehrten zurück. (Der "Graf von Monte Christo" beschreibt die Stimmung und Situation dieser Zeit ganz hervorragend.) Ihr ex-Lover, der Graf d'Artois, hatte ein Aktportrait von ihr in seinem Badezimmer - er regierte1824 als Charles X. Und auch sein Nachfolger, König Louis Philippe I (ab 1830) erinnerte sich sicherlich gerne an die Frau, die von seinem Vater gebeten worden war, ihm "etwas über das Leben" beizubringen... 
Ach ja. Das war alles vor dem Biedermeier und der Empfindsamkeit und all den moralischen, (klein-)bürgerlichen Einschränkungen, die erst 1968 wieder in Frage gestellt wurden! 

Eine interessante Frau! Sie hinterließ nach ihrem Tod im Jahr 1830, mit 82 (!) Jahren, viele Freunde und kein geringes Vermögen.
Was für ein interessantes Leben! Man sollte das mal verfilmen.

Dankeschön für den Auftrag, liebes Internet - das hätte ich sonst alles nicht erfahren. Jetzt dürfen aber erstmal wieder andere ran...



Links:
https://georgianera.wordpress.com/2018/03/20/rosalie-duthe-courtesan-opera-dancer-and-the-first-dumb-blonde/
https://fr.wikipedia.org/wiki/Rosalie_Duth%C3%A9 
https://en.wikipedia.org/wiki/Rosalie_Duth%c3%a9
https://de.wikipedia.org/wiki/Henri-Pierre_Danloux
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Danloux-duthe.jpg